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Meine Schuhe

Meine ersten Schuhe waren, wie die unzähliger kleiner Mädchen in den sechziger Jahren, aus Leder, rot, niedlich rund vorn, knöchelhoch und zum Schnüren, Marke Elephanten. Ich kenne sie nur von Fotos. Manche Eltern heben die ersten festen Schuhe ihrer Kinder auf. Meine nicht, was ich ihnen nicht übelnehme, da ich es an ihrer Stelle vermutlich ähnlich gehalten hätte. Zu den roten Schuhen auf dem Foto trage ich ein grün-weißes Dirndl, Geschenk meiner in alles bayerische verliebten Großmutter Elise. Dazu will mein Haarschnitt leider überhaupt nicht passen. Das kleine Mädchen mit den roten Schuhen und dem Dirndl ist hellblond, aber statt der Locken, die ich damals angeblich hatte, trage ich einen Igelschnitt, den mir meine Mutter mit der Nagelschere verpasst hatte. So war es praktischer. Jetzt fällt mir ein, dass ich einige Jahre später eine Puppe mit langen blonden Haaren und Wimperklimper auf dieselbe Weise malträtiert habe. Aber wahrscheinlich hat das Eine gar nichts mit dem Anderen zu tun.

 

Jedes Mädchen will spätestens mit vier Jahren Lackschuhe. Meine Eltern waren strikt dagegen, aber Oma und ich ließen nicht locker. Die Dinger drückten entsetzlich, und zum Glück wuchs ich schnell aus ihnen raus. Danach gab es keine Experimente mehr, wenigstens für eine Weile. Salamander war das Losungswort, flach, robust, mal zum Schnüren, mal Slipper. Blau, Braun, Grau. Nach dem Kauf gab es an der Kasse jeweils eine Single, die so elastisch war, dass man sie hätte zusammenrollen können. Lurchis Abenteuer. Vorn auf dem Cover ein strammer Feuersalamander mit muskulösen, langen Gliedmaßen in schnellem Schritt. Er trug Schnürstiefel und schaute meist über die Schulter zurück. Ich könnte ihn heute noch zeichnen. Zu Hause wurde die Schallplatte dann wieder und wieder angehört, bis zum großen Finale: "Salamander, lebe hoch!" Von dieser perfekten Kundenbindung kann wahrscheinlich selbst Apple nur träumen!

 

In der zweiten Klasse verliebte ich mich in ein paar hellbraune Wildleder-Halbstiefel mit Lederfransen. Das war damals schick, und ich bekam sie, obwohl meine Mutter vom Kauf dringend abriet. Leider fanden die Fransen keine Gnade vor den Augen meiner Mitschüler, und so fielen auch sie der Schere zum Opfer. Der modische Clou war weg, meine Begeisterung ebenfalls, und das Schicksal der Wildlederstiefel als Schrankschuhe war besiegelt. Mama hatte es ja gleich gesagt ...

 

Ich wuchs in jeder Hinsicht in die Länge. Mein Rücken, meine Arme, meine Beine. Und erst die Füße! Es wurde schwierig, für eine Elfjährige halbwegs praktische und dabei einigermaßen gut aussehende Halbschuhe zu finden, denn Turnschuhe, wie Sneakers damals abfällig genannt wurden, kamen für meine Eltern nicht in Frage. Dieses Dilemma resultierte in dem schrägsten Schuhpaar, das ich jemals besessen habe, und gleichzeitig in jenem, das ich von all meinen Schuhen am meisten geliebt habe. Es waren riesige grüne Schnürschuhe mit eckig-klobiger roter Kappe und Plateausohlen, die mich gleich noch fünf Zentimeter größer machten.  An der Seite wurde das wunderbare Chromoxydgrün durch je einen roten Streifen noch betont, und es kann gut sein, dass dieses wunderbare Design noch durch weitere Details ergänzt wurde, an die ich mich nicht mehr erinnern kann. Sie waren gigantisch, bunt, stylisch, und unglaublich bequem. Dazu trug ich eine grüne Schlaghose, die ich am liebsten niemals ausgezogen hätte, und T-Shirts von Fruit of the Loom.

 

Als dieser Traum zu Ende ging, ließ ich mir von meinen Eltern nicht mehr dreinreden und kaufte die ersten von mindestens fünf aufeinanderfolgenden Adidas Samba in schwarz. Die zog ich nur für meine Reitstiefel aus. Doch auch ich konnte nicht vermeiden, irgendwann ein Mädchen werden zu wollen. Die Haare durften wachsen, der Verbrauch an Wimperntusche und Lidschatten stieg. Es kamen spießige Blümchenröcke, Ballerinas mit weißen Söckchen, noch einmal ein Lackschuhversuch, dann die ersten Absätze. Achtzigerjahre, spitz zulaufende Pumps mit schrägem Ausschnitt und kurzem, keilförmigen Pfennigabsatz. Kürzlich hatte man die Frankfurter Fressgass, eine Straße, die ich häufig frequentierte, mit Katzenkopfpflaster belegt, in dessen Zwischenräumen ich sämtliche Absätze ruinierte. Offenbar ging es anderen Frauen ähnlich, denn aufgrund massiven weiblichen Protests wurden dann zumindest jene drei Meter Flanierzone vor den Geschäften längs der Straße versiegelt.

 

Anfang der neunziger radikaler Schnitt. Haare wieder ab, Herrenanzüge (jawohl, echte, keine Hosenanzüge!), weiße  Herrenhemden, Westen, Hosenträger, ledergefütterte schwarze Schnürschuhe. Nie zuvor und nie wieder danach habe ich mich so entspannt gut angezogen gefühlt. Nichts klemmte, nichts kniff, mein Gang war leger und raumgreifend, was sich in Hamburg ohne Auto nur als Vorteil erweisen konnte. Doch diese Phase war leider nur von kurzer Dauer.

 

Die Körpergröße der Männer, in die ich mich verliebte, hatte auf die Höhe meiner Absätze immer direkte Auswirkung. Meine Zeiten in flachen, schönen Schuhen, die es tatsächlich zu kaufen gab, wenn man bereit war, ein bisschen Geld auszugeben, habe ich jenen wunderbaren Typen zwischen einsvierundsiebzig und einsfünfundachtzig zu verdanken. Maß einer der Angebeteten über einsneunzig, war sofort eine Änderung des Schuhkaufverhaltens nötig. Die Höhe meiner Schuhabsätze wuchs proportional zur Körperlänge meines Liebhabers. Dass die Saumlänge meiner Röcke ebenfalls proportional schrumpfte, versteht sich von selbst.

 

So stöckelte ich durch die Lande und vor allem durch die Gassen Roms, wo ich mich zwischen 1997 und 2003 fast unablässig aufhielt und dann auch ein ganzes Jahr am Stück dort verbrachte. Die Italienerinnen sind nicht nur alle schön und haben bestimmt nie einen bad hair day, weil sie dafür einfach viel zu volles, wunderbares Haar besitzen – sie kleiden sich dazu klassisch schick und tragen grundsätzlich High Heels. Ich wollte auch so sein, schließlich war ich nicht nur ausgewandert, um endlich eine berühmte Schriftstellerin zu werden, sondern auch, um den blonden deutschen Trampel hinter mir zu lassen.

 

Ein Relikt dieser Zeit trug ich bei meiner Hochzeit, die allerdings nicht in Rom, sondern in Laboe an der Ostsee stattfand. Blassgelbe Sandaletten mit acht Zentimetern Keilabsatz, vorne flaches Plateau für die Bequemlichkeit. Ich fand sie superschick und fand mich superelegant in meinem lachsfarbenen Sommerkleid und den blassgelben Sandaletten. Das Foto für die Ewigkeit wurde am Strand aufgenommen, der Himmel war blau, die Temperatur über fünfundzwanzig Grad, und der Sekt aus den Plastikgläsern weitestgehend geleert. Wir gingen essen, betranken uns noch mehr, ich bekam einen heftigen Schluckauf, wir fuhren am nächsten Morgen um vier Uhr früh zum Flughafen. Zwei Wochen später sah ich das Hochzeitsfoto. Der Gatte im hellen Sakko, grauer Hose, schwarzen Schuhen.  Ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht. Die Gattin im lachsfarbenen Kleid, ein zauberhaftes Lächeln auf dem Gesicht. Keine Schuhe. – Die Braut war barfuß, die blassgelben Sandaletten sonstwo, die Füße steckten bis zu den Knöcheln im Sand. Und meine Waden wirkten wie zwei einbetonierte Poller. Peinlich, sagte ich. Süß, sagte mein Mann.

 

Seit einigen Jahren lege ich aus beruflichen Grünen mehrmals in der Woche zwölf Kilometer täglich zu Fuß zurück und trage daher meist flache Schnürtreter mit federnder Sohle. Manchmal fahre ich auch mit dem Bus, seit Neuestem habe ich einen Tretroller. Fahrradfahren ist in Lübeck lebensgefährlich, und ich gehöre nicht (mehr) zu den Wagemutigen.

Dass auch schlichtes zu Fuß gehen lebensgefährlich sein kann, erfuhr ich vor zwei Jahren. Ich kam aus der Mittagspause, nahm, statt zur Kreuzung zu gehen, eine Abkürzung zwischen zwei zusammenlaufenden Hauptverkehrsstraßen, weil es dort schöne alte Gärten gibt, in denen Vögel singen und Blumen blühen. Es war drei Uhr nachmittags, kein Verkehr. Nur gegenüber, in der Ausfahrt eines der großen Autohäuser, die die Straße säumten, stand ein schwarzer PKW und blinkte rechts. Da weit und breit kein Auto kam, überquerte ich die Straße. Als ich etwa die Mitte erreicht hatte, blinkte der schwarze PKW plötzlich links und fuhr los. Ich winkte hektisch, aber der Wagen hielt direkt auf mich zu. Alles ging so unglaublich schnell. Das Auto erwischte mich mit der Fahrerseite, ich sah mich in Zeitlupe zu Boden gehen und dachte dabei immer und immer wieder: Bloß nicht auf den Kopf knallen. Bloß nicht auf den Kopf knallen. Daher spannte ich meine Bauchmuskeln bis zum Zerreißen an. Der kleine Rucksack dämpfte den Aufprall zusätzlich. Krampfhaft hielt ich den Kopf oben, was den Nachteil hatte, dass ich nun zusehen konnte, wie der schwarze PKW mit dem Hinterrad akkurat über meinen Fuß fuhr und ihn von der Schuhspitze über den Spann und den Knöchel umbog.

Dann hatte die Frau am Steuer offensichtlich begriffen, dass sie gerade jemanden überfahren hatte, hielt an und stieg aus.

Ich richtete mich auf, saß auf der Straße, dachte noch: Hoffentlich kommt jetzt kein Raser vorbei, der mich plattmacht, dann bewegte ich vorsichtig meinen Fuß. Auf dem hellgrauen Sportschuh zeichnete sich deutlich der Autoreifen ab. Der Fuß ließ sich hierhin und dorthin drehen, anwinkeln, strecken. Ich stand auf, trat auf. Kein Schmerz. Ich stand fest.

Wir riefen die Polizei, entschuldigten uns gegenseitig immer wieder. Sie fuhr ihren Wagen an die Seite, ich überquerte endlich die Straße, und wir gaben alles zu Protokoll. Irgendwann spürte ich, dass mein Fuß taub wurde, und ich zog den Schuh aus. Auch auf dem Fuß zeichnete sich der Autoreifen ab. Der große Zeh war blutunterlaufen von der Quetschung. Ich stimmte zu, ins Krankenhaus gebracht zu werden. Röntgenaufnahme. Gespräch mit dem Arzt. Gebrochen war nichts. Nur massiv gequetscht.

Ich bilde mir bis heute ein, dass der Schuh meine Rettung war. Stabil, dabei flexibel. Er trug auf der Sohle ein grünes Logo. Salamander lebe hoch!

 

© Beate Schaefer, 2018