Gestern ist meine Jahreskarte als Neumitglied der Freunde der Lübecker Kunstsammlungen angekommen, und ich nehme das zum Anlass, heute den zweiten Blog im Museum Behnhaus-Drägerhaus zu schreiben. Draußen ist es kalt und sonnig, der Lübecker Weihnachtsmarkt ist voll, und ich vermute, heute werden sich nicht allzu viele Besucher ins Museum verirren. Die beiden Führungen zur Sonderausstellung um halb zwölf sind allerdings gut besucht.
Seit drei Jahren bin ich nicht mehr in Rom oder sonstwo in Italien gewesen, und weil mich besonders im Winter die Sehnsucht packt, habe ich mir heute im ersten Stock den Raum mit den italienischen Landschaften ausgesucht. Dabei ist der Winter in Italien oft sehr ungemütlich. Ich erinnere mich an elf Grad minus am 25. November 1998 in Venedig, an einen Schneesturm in Aquileia, an ungeheizte Busse bei Null Grad in Rom und Hotelzimmer, die nur von sieben bis neun Uhr und von zwanzig bis zweiundzwanzig Uhr beheizt werden. Im November regnet es außerdem in Rom oft tagelang, und irgendwie erschien mir der Regen dort immer nasser als bei uns, abgesehen davon, dass die Kanalisation nicht funktioniert und das Wasser knöcheltief auf den Straßen steht. Trotzdem ist Italien im Winter wunderbar, wegen des Lichts, wegen der verschneiten Berge, davor die Kuppeln von Florenz, wegen der Entspannung, die eintritt, wenn die Touristenströme ein wenig abebben, wegen der frühen Dunkelheit und dem Lichterglanz des Centro, wenn abends die Geschäfte öffnen und die ganze Stadt flaniert.
Eher spätsommerlich ist allerdings das Bild, über das ich jetzt schreiben werde. Ein Bild, das ich besonders mag, nicht nur wegen seiner künstlerischen Qualität, die durchaus hervorragend ist, sondern wegen des Sujets und der Erinnerungen, die sich damit verbinden. Es handelt sich um Johann-Martin von Rohdens Ansicht des Lago di Nemi in den Albaner Bergen südlich von Rom. Ein Motiv, das nicht nur er, sondern die meisten der romversessenen Maler aus dem Norden im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert immer wieder gewählt haben. Seine Maße sind salontauglich – etwa neunzig mal hunderzwanzig Zentimeter –, die Perspektive ist diejenige, die auch Rohdens Kollegen meist eingenommen haben. Der Maler steht nordöstlich oberhalb des Sees, eine Lichtung gewährt den freien Blick über den ehemaligen Vulkankrater, und dahinter erstreckt sich die Ebene der Campagna bis zum tyrrhenischen Meer. Links oberhalb des steil abfallenden, waldbewachsenen Kraters liegt das Castello Ruspoli, die Burg von Nemi, zu der ein Weg hinaufführt, den auch ich schon einige Male gewandert bin. Eine deutsche Autofirma hat ihn, der sich im Zickzack aus dem Tal heraufzieht, sichern lassen und Informationstafeln aufgestellt. Schräg gegenüber, am anderen Ufer des Sees, liegt malerisch auf einem hohen Felsen das Städtchen Genzano, wo der Bus hält, der sich von Rom-Anagnina aus durch den Stau in die Albaner Berge quält. In Genzano gibt es ab und zu einen Bus nach Nemi, aber ich bin meist zu Fuß gegangen; es dauert etwa anderthalb bis zwei Stunden, erst die wenig befahrene Straße hinab, die von der Kirche in Genzano nach links abzweigt, im Frühling eingehüllt vom Duft der Akazien, dann durch das fruchtbare Tal am Museum für die antiken Schiffe von Nemi vorbei, links etwas frustriert die Ausgrabungsstätte des Diana-Tempels liegen lassend, weil sie nicht zu besichtigen ist, dann, fliegenumsummt, zwischen Steineichen, Lorbeerbäumen und Esskastanien hinauf nach Nemi, Glück gehabt, wenn Markt ist, dort Margaret Stenhouse treffen, eine schottische Journalistin, die in den sechziger Jahren in Rom hängengeblieben ist, weil sie sich bei einer Führung auf dem Forum in den Tour Guide verliebte. Sie wohnt in Nemi und hat zwei Bücher über die Mysterien des Lago di Nemi geschrieben, eines über den Kult der Diana, das andere über die Tempelschiffe des Caligula, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aus dem See geborgen wurden und bei einem Brand im Zweiten Weltkrieg verloren gingen. Es geht die Sage, dass es ein drittes Schiff gab, und von Zeit zu Zeit holen Fischer, deren Netze im grundlosen Loch des Kraters tiefer als gewöhnlich abgesunken sind, bronzenen oder marmornen Schmuck aus dem See, der diese Theorie zu unterstützen scheint. Im Museum, zwei großen Hallen, einer Werft ähnlich, sind heute Nachbildungen der Schiffe ausgestellt sowie viele kostbare Objekte, die darauf schließen lassen, dass die Schiffe schwimmende Tempelanlagen für Isis und Osiris waren, auf denen der durchgeknallte Caligula die mystische Vermählung mit seiner angebeteten Schwester zelebrierte …
Johann-Martin von Rohden wusste noch nichts von den Schiffen, kannte vermutlich aber die Sage um die Quelle der Nymphe Egeria, deren aus Tuffblöcken zusammengefügtes antikes Quellhaus sich zentral im Bild befindet. Bei Egeria kurierte Hippolytos, Sohn des Theseus und der Hippolyta, seine Verletzungen aus, die er sich beim Sturz seines Pferdegespanns zugezogen hatte. Er war ein Liebling der keuschen Artemis, und als sich seine Stiefmutter Phädra in ihn verliebte, wies er sie brav zurück. Daraufhin brachte sie sich um, beschuldigte ihn aber zuvor in einem Brief an ihren Mann, sie verführt zu haben. Theseus hetzte Poseidon gegen seinen Sohn auf, der sandte ein Meeresungeheuer, das die Pferde des Hippolytos so erschreckte, dass sie durchgingen. Artemis brachte den Verletzten nach Nemi, übergab ihn der sorgenden Nymphe, und aus Dankbarkeit gründete er einen Tempel für die Göttin, der später, als Orest die geraubte Artemis-Statue mitsamt seiner Schwester Iphigenie aus dem herben Tauris entführte, dem wilden latinischen Kult der Diana Nemorensis geweiht wurde. Hippolytos nahm den lokalen Namen Virbius an und lebte mit Egeria glücklich und in Frieden, und wenn sie nicht gestorben sind …
Rohdens Bild ist 1818 entstanden, zu einer Zeit also, als die Antikenbegeisterung in Europa auf ihrem Höhepunkt war. Zum einen waren durch neue Ausgrabungen viele Kunstschätze, von denen man bis dahin nur aus antiken Quellen wusste, plötzlich wieder sichtbar, zum anderen wurden durch editorisch-antiquarischen Eifer viele antike Quellen zum ersten Mal verfügbar. Künstler, Adlige, aber auch Handwerker und Händler, alle reisten nach Italien, Mythos war schick, und wer es sich leisten konnte, dekorierte sein Haus im neronischen Stil, kaufte (oft gefälschte) etruskische Vasen, und die Frauen trugen fließende Kleider mit hochgerutschter Taille, die entfernt an griechische Gewänder erinnerten.
Daher unterliegt einer Täuschung, wer glaubt, Rohdens Gemälde des Lago di Nemi sei Landschaft pur, auch wenn Genzano, die bewaldeten Hänge des Kraters, der blaue Himmel und die Wolken sich dekorativ in der stillen Wasseroberfläche des Sees spiegeln, von dem niemand weiß, wie tief er wirklich ist. Drei Gestalten beleben das Bild, oberflächlich gesehen Genrefiguren. Auf einem flachen Felsblock sitzt im Vordergrund, mit Kapuze, Wanderstock und Korb, den Blick auf die Quelle der Egeria geheftet, ein alter bärtiger Eremit. Links aus dem Wald, von Nemi her, kommt ein Pilger, uralt mit langem Bart. Rechts neben der Quelle – die es dort übrigens immer noch gibt – macht sich ein Wanderer an den Abstieg ins Tal. Aus den Tuffblöcken des Quellschreins wachsen ein Feigenbaum und ein Weinstock, nicht ganz zufällig, denke ich, denn sie sind Symbole der Roma Urbs, wie sie auch vor der Kurie auf dem Forum stehen. Nur der Olivenbaum fehlt, der dritte im Bunde, aber Olivenbäume wachsen rund um den Nemisee auch nicht. Stattdessen wird der gesamte rechte Bildteil von einem mächtigen alten Baum mit hohlem Stamm eingenommen. Den Blättern nach zu urteilen, handelt es sich um einen Lorbeer und nicht um eine Steineiche, wie sie unten am See ursprünglich zum Heiligtum der Diana von Nemi gehörte. Ihr Tempel war einst einer der wichtigsten in Rom, und ihr Fest am 15. August war einer der höchsten Feiertage. Ganz Rom pilgerte nach Nemi und brachte der Göttin Weihegaben, darunter auch Bitten um Heilung in Gestalt der betroffenen Körperteile. Füße, Hände, Augen, Brüste, selbst Vulven aus Ton wurden ihr gestiftet in der Hoffnung auf Heilung. Später wurde der 15. August nach dem Sieg des Octavian über Antonius und Kleopatra dann auch noch zum Beginn der augusteischen Friedensfeiern und markiert bist heute den Beginn der Hauptferienzeit aller Italiener – Ferragosto (Ferien des Augustus). Die Christen bauten eine Kirche auf den Ruinen des Dianatempels und nannten den 15. August fortan Mariä Himmelfahrt. In den katholischen Ländern des Südens ist er bis heute ein hoher Feiertag.
Ich muss erwähnen, dass ich bisher keineswegs ganz allein in diesem hellen Raum gesessen habe, den man von der zentralen Halle im ersten Stock des Museums betritt. Interessanterweise kamen bisher nur Männer, um sich die Landschaften in meinem und den angrenzenden zwei möblierten Salons anzusehen, und sie blieben im Durchschnitt länger, als meine wenigen Besucher beim letzten Mal vor den Corinths verweilt hatten.
Manchmal wünsche ich mir, ich könnte den Lago di Nemi noch so sehen, wie Rohden und seine Zeitgenossen ihn sahen. Apropos Rohde: Der Wanderer, der talwärts geht, trägt eine gelbe Hose, eine weiße Bluse, ein rotes Wams, hat halblanges blondes Haar, darauf ein Hut mit breiter Krempe, wie er Goethe auf Tischbeins Porträt als Künstler ausweist. An der Stange, die der Wanderer locker schultert, hängt etwas Lappenähnliches, ein graubraunes Stück Stoff, halb aufgewickelt, halb schlaff, ohne Inhalt. Vielleicht ein kleines, humorvolles Selbstporträt des Malers?
Ich wünschte, ich wäre der Eremit auf dem Stein, der nicht so wirkt, als denke er an den christlichen Gott und seine Heiligen. Dort, wo er sitzt, steht heute eine Bank unter Esskastanien. Esskastanien sind übrigens auch ein Argument für den Besuch Roms im Winter. An jeder Straßenecke, auf jeder Piazza kann man sich eine Tüte frisch gerösteter Maroni kaufen, eine leckere Zwischenmahlzeit, vitaminreich, nahrhaft. Hält lange vor …
Heute zieht sich auf dem Kranz des Vulkankraters eine viel befahrene Straße hin, und der Blick hinüber nach Genzano wird von einem riesigen Gebäude aus Beton abgelenkt, das ich ein Mal, als ich um den See gewandert und dort mangels eines anderen Ausstiegs aus dem Krater vorbei gekommen bin, als monströses Kolumbarium eines Friedhofs identifizieren konnte.
Die Kraterlandschaft, auf Rohdens Bild spätsommerlich ruhig und waldreich unberührt, ist heute zersiedelt, überall stehen kleine Villen an den Hängen, legal und illegal erbaut. Das Tal, wo einst der mächtige Komplex des Diana-Tempels stand, wird intensiv bewirtschaftet duch Obstanbau und Lilienfelder. Alles ist eingezäunt, Hunde kläffen, irgend jemand hat immer eine Kettensäge in Betrieb.
Ende des neunzehnten Jahrhunderts hat ein besessener Engländer, James Frazer, ein Mammutwerk über den Kult der Diana von Nemi geschrieben: „The Golden Bough“. In einem blutigen Ritual wurde jedes Jahr der „König des Waldes“, Priester und Geliebter der Diana, durch einen neuen Jüngling ersetzt, der den „goldenen Zweig“ im Zweikampf erobern musste, damit der fruchtbare Kreislauf von Werden und Vergehen niemals endete.
Die Tafel neben dem Gemälde beschreibt sehr schön, dass Rohde ein Zyklusbild gemalt hat: „In der Ansicht des Nemi-Sees reicht ein solcher Kreislauf von der Quelle rechts im Vordergrund über den (kreisrunden, Anm. d. Verf.) See bis zum Meer … Ebenso beschreiben die jungen Pflanzen des Vordergrunds, die Bäume und Büsche bis zum toten Baumstamm rechts, einen Kreislauf, der den Gang alles Irdischen aufzeigt.“ Auch die Figuren, im Ankommen links der Pilger, im Verharren vor der Quelle der Eremit, im Abgehen der Wanderer, beschreiben einen Kreis.
Wobei der „Gang alles Irdischen“ in unserer modernen Auffassung eher das Hinübergehen, das Sterben beschreibt und weniger den Zyklus von Werden und Vergehen, beides absolut gleichwertig im antiken Denken, während das Christentum die Welt vom Tod her auffasst. Das Kreuz als Antagonist des Kreises. Ob die Toten jemals auferstehen, weiß niemand. Man muss es seit zweitausend Jahren glauben, um Christ zu sein. Aber dass alles in der Natur lebt, vergeht und wiederkehrt, ist jedem erfahrbar. Seit Millionen Jahren.
Wie Rohden darüber dachte, wissen wir nicht. Ein Jahrhundert zuvor hätte ein Maler wohl aus dem nachdenklichen Eremiten noch einen heiligen Hieronymus gemacht, der sich, umgeben von Wald und Felsen, im Angesicht des Kreuzes mit einem Stein selbst kasteit. Doch gerade, als ich schreiben will, dass der Einsiedler im Bild wohl ein verkappter Heide sein muss, sehe ich es. Das Kreuz. Schon zu Anfang, als ich die Bildbetrachtung begann, hat mich der Zaun irritiert, der scheinbar sinnfrei eine Lücke zwischen einem Ginsterbusch und einem jungen Feigengewächs überbrückt. Und zwar so prominent, dass unweigerlich der Blick davon angezogen wird. Dahinter ist dichtes Gestrüpp, nichts deutet auf eine Weide oder einen Garten hin, der eingezäunt werden müsste, auch geht der „Zaun“ nirgendwo weiter.
Es ist eben auch kein „Zaun“, sondern ein schlichtes, wiewohl massives Holzkreuz, eine Strebe vertikal, eine kürzere horizontal, und jetzt wird mir klar, dass es zu kurz gedacht wäre, das Bild nur als Allegorie des Kreislaufs oder des „Laufs alles Irdischen“ zu begreifen. Es ist auch keine bloße Feier der italienischen Landschaft mit Figurenstaffage, keine Sehnsuchtsformel, die die Antike wiederbeleben soll. Es ist ein zumindest ambivalentes Bild, wenn nicht explizit christlich. Dazu passt, dass Rohden, wie so viele Deutschrömer, aus Liebe zu einer Italienerin zum katholischen Glauben konvertierte. Sein Kreis als Symbol des Lebens wird – zumindest für mich – in diesem Bild übertrumpft vom Symbol des Kreuzes. Der Tod ist stärker als das Leben, und die Hoffnung ist blind …